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Stress hat viele Gesichter – Wie sich Stress bei Kindern zeigen kann

In dieser Blogserie zum Thema "Die Sprache des Nervensystems im Alltag mit Kindern" dreht sich alles um die zentrale Rolle des Nervensystems in der Begleitung von Kindern. Im ersten Teil haben wir die Grundlagen beleuchtet: Warum Verhalten oft kein Ausdruck von Willen, sondern von inneren Zuständen ist – und wie das autonome Nervensystem im Hintergrund mitsteuert.

Der zweite Beitrag zeigt, was passiert, wenn das Nervensystem in Alarmbereitschaft geht – und welche Auslöser bei Kindern Stress auslösen können, oft ganz unbemerkt.


Ein Mädchen mit langen braunen Haaren schaut direkt in die Kamera.
Stressreaktionen können ganz unterschiedlich aussehen. Daher gilt es achtsam zu sein - besonders bei Verhaltensveränderungen von Kindern.

In diesem dritten Teil geht es nun vorwiegend darum, wie sich dieser Stress bei Kindern zeigen kann, welche Nervensystem-Zustände dahinterstecken – und welche körperlichen Signale Hinweise auf diese Zustände geben.


Bevor du weiterliest, halte kurz inne und stell dir folgende Fragen:

Welche inneren Bilder tauchen bei dir auf, wenn du an Stress bei Kindern denkst?

Wie sieht für dich kindlicher Stress aus? Macht dir allenfalls auch gerne ein paar Notizen dazu.



Was passiert, wenn das kindliche Nervensystem in den Schutzmodus geht


Stressreaktionen können sehr unterschiedlich aussehen. Ob ein Kind laut wird, sich zurückzieht oder scheinbar „einfach mitmacht“ – all das kann Ausdruck von Stress sein. Und das macht ihn manchmal so schwer zu erkennen. Denn: Stress ist nicht immer laut.


Das Verhalten, das wir sehen, ist nicht das Problem – sondern der Versuch des Nervensystems, mit einer als bedrohlich empfundenen Situation umzugehen.


Wenn das Nervensystem Alarm schlägt, werden uralte Überlebensmechanismen aktiviert, die tief in unserem biologischen System verankert sind. Was genau das bedeutet, zeigt sich am besten, wenn wir zwei Zustände des Nervensystems unter Stress betrachten: Die Übererregung und die Untererregung.


Das Verhalten des Kindes ist der Versuch, mit dem inneren Stress umzugehen.

Beides sind Zustände, in die wir unter (Hoch-)Stress geraten können – je nachdem, wie das Nervensystem die Situation bewertet und welche Stressreaktion ihm (bewusst oder unbewusst) zur Verfügung steht. In diesen Zuständen werden automatische Schutzreaktionen in Gang gesetzt.


Übererregung


In der Übererregung ist das Nervensystem im akuten Alarmzustand. Der sogenannte Sympathikus wird aktiviert – ein Teil des autonomen Nervensystems, der die Energie im Körper für Kampf oder Flucht mobilisiert.


In diesem Zustand wird ein ganzer Cocktail an Stresshormonen ausgeschüttet. Das Ziel: Bedrohung aktiv abwehren. Energie bereitstellen, um auf die als bedrohlich eingestufte Situation zu reagieren – möglichst schnell.


Das kann sich z. B. so zeigen:

  • Wutausbrüche

  • Schreien, Türen knallen

  • Rennen, weglaufen

  • Beissen, schlagen

  • „respektloses“ oder grenzüberschreitendes Verhalten


Hier ist das Kind nicht „ungezogen“ – sondern überfordert. Es versucht, sich durch Aktion aus einer gefühlten Bedrohung zu befreien – egal ob diese von aussen sichtbar ist oder "nur" innerlich so empfunden wird.


Ein Junge  sitzt am Pult, wirkt frustriert und  hat einen Stift und einen Papierknäuel in der Hand.
Beispiel einer Übererregung: Unseren Emotionen Ausdruck zu verleihen ist wichtig, um den Stresszyklus zu beenden.

Untererregung


Wird das Nervensystem massiv und /oder über längere Zeit überlastet – und sind Kampf oder Flucht nicht möglich –, schaltet es in einen Schutzmodus der Untererregung: Rückzug, Erstarren, „Stillhalten“.


Dieser Zustand ist weniger sichtbar, aber nicht weniger ernst: Der Körper fährt die Aktivität herunter, um Energie zu sparen und sich innerlich von der als bedrohlich empfundenen Situation zu distanzieren.


Gerade bei Kindern tritt diese Reaktion häufiger auf, als man denkt. Warum? Weil sie, wie weiter oben beschrieben, auf Erwachsene angewiesen sind und Flucht oder Kampf aufgrund der Abhängigkeit oft nicht möglich sind. In solchen Momenten wird Anpassung zur Überlebensstrategie.


Typische Anzeichen von Untererregung können sein:

  • Rückzug, in sich „versinken“

  • Schweigen, scheinbare Gleichgültigkeit

  • „Funktionieren“ oder extremes angepasstes Verhalten

  • Innere Resignation („Ich kann eh nichts ändern“)

  • Kind wirkt ruhig oder „brav“, aber innerlich ist es nicht verbunden


Auch das ist eine Stressreaktion – nur eben eine stille. Und genau deshalb wird sie so oft übersehen oder falsch gedeutet. Doch hinter scheinbarer Ruhe kann sich eine tiefe innere Anspannung oder emotionale Abkopplung verbergen.



Beispiele aus dem Alltag: Ein Auslöser - zwei Reaktionen


Im Folgenden beschreibe ich zwei Beispiel, wie zwei Kinder unterschiedlich auf eine Situation/Erfahrung reagieren können.


Beispiel 1: Zwei Kinder wollen dasselbe Spielzeug. Dein Kind bekommt es nicht.


  • Übererregung: Dein Kind schreit, reisst das Spielzeug zurück oder haut.

    👉 Es fühlt sich ohnmächtig – das Bedürfnis nach Einfluss oder Fairness ist verletzt. Kampf wird zur Stressantwort.

  • Untererregung: Dein Kind sagt nichts, zieht sich zurück und spielt nicht weiter.

    👉 Auch hier ist das Bedürfnis unerfüllt – doch statt zu kämpfen, schützt sich das Nervensystem durch Rückzug.


Beispiel 2: Zwei Kinder kommen nach der Schule nachhause. Der Tag war sehr ereignisreich und fordernd. Es gab einige Konflikte.


  • Übererregung: Das eine Kind zeigt sich zuhause unruhig, zappelig, aggressiv oder weint, ohne dass der Grund für dich sofort ersichtlich ist.

  • Untererregung: Das andere Kind wirkt „abwesend“, reagiert kaum, zieht sich zurück oder scheint antriebslos.


Beide Reaktionen sind Versuche, mit innerem Stress umzugehen. Die Strategien sind unterschiedlich – aber gleich bedeutsam.



Ein Jugendlicher schaut in die Ferne. Der blick wirkt angestrengt.
Stress kann (in der Untererregung) auch so aussehen.

Warum wir Stress bei Kindern oft übersehen


Gerade ruhiges oder angepasstes Verhalten kann maskierter Stress sein. Ein Kind, das scheinbar „immer mitmacht“, keine Grenzen zeigt oder sich ständig zurücknimmt, ist nicht automatisch fein mit allem. Manchmal ist es einfach in einer Überlebensstrategie gefangen – weil es gelernt hat: Nur so bin ich sicher.

Rückzug, Anpassung oder „Funktionieren“ gelten oft als unauffällig – sind aber ebenfalls Stressreaktionen. Sie brauchen ebenso viel Aufmerksamkeit.


💡 Tipp für Eltern und PädagogInnen: Frag dich bei sehr ruhigen, extrem angepassten Kindern: „Wirkt es wirklich entspannt – oder eher still, angespannt, in sich zurückgezogen?“



Tipps für den Alltag


Du siehst: Stress hat viele Gesichter. Wenn wir die Sprache des Nervensystems verstehen und Verhalten als Ausdruck innerer Zustände sehen, verändert sich unser Blick. Wir beginnen, weniger zu bewerten – und mehr zu verstehen. Wir können feinfühliger begleiten.


Denn weder Kinder noch Erwachsene wählen bewusst, was in ihnen Stress auslöst. Das Nervensystem arbeitet autonom – es meldet „Gefahr“ lange bevor unser Verstand reagieren kann.  Ihr Verhalten spiegelt den inneren Zustand ihres Nervensystems.


Was nach aussen wie Trotz, Verweigerung oder Überempfindlichkeit aussieht, ist oft der sichtbare Ausdruck von innerem Stress. Und dieser wiederum ist meist ein Signal: „Hier ist ein Bedürfnis gerade nicht erfüllt.“


Hier 3 Tipps für deinen Alltag mit Kindern:


  1. Beobachten statt bewerten: Unsere erwachsene Perspektive bringt oft automatische Bewertungen mit sich: Das Kind will provozieren, ist frech, testet Grenzen, macht das absichtlich.... Statt Verhalten vorschnell zu interpretieren, hilft es, genau hinzuschauen. Versuche, erst einmal nur wahrzunehmen, ohne sofort ein Etikett zu geben.


  1. Eine neue Perspektive einnehmen: Sprache verändert Haltung. Statt „Das Kind ist schwierig“ hilft die Formulierung: „Das Kind hat es schwierig.“ Oder: „Das Kind ist dysreguliert“ anstelle von „Das Kind stört“. Dieser kleine Perspektivwechsel kann bereits einen grossen Unterschied machen.


  2. Neugierig bleiben und forschen: Um Stressreaktionen besser zu verstehen, lohnt es sich, neugierig zu bleiben:

    • Welche Körpersignale sendet das Kind?

    • Wirkt es angespannt, nervös, resigniert, zurückgezogen?

    • Was könnte das Nervensystem brauchen?

    • Welches Bedürfnis steht vielleicht dahinter?

    Je öfter du diese Fragen stellst, desto leichter wird es, Verhalten nicht als Provokation, sondern als Botschaft zu sehen.


Wenn wir lernen, die Signale des Nervensystems zu lesen, entsteht ein ganz neuer Zugang – nicht nur zu Kindern, sondern auch zu uns selbst.


Ein Mädchen sitzt mit angezogenen Beinen auf einer Couch und schaut traurig weg.
"Leise" Stressreaktionen wie Rückzug, Schweigen, Funktionieren oder Anpassung werden oftmals nicht als solche erkannt.

Ausblick: Kindliches Verhalten entschlüsseln


Zu Beginn des Beitrags hast du dir die Frage gestellt "Welche inneren Bilder tauchen bei dir auf, wenn du an Stress bei Kindern denkst?". Wenn du dir die Frage nochmals stellst, tauchen neue Bilder auf? Hat sich da was verändert? In den nächsten Beiträgen dieser Reihe schauen wir noch genauer hin:


  • Wie kann ich das Verhalten meines Kindes besser „lesen“? Wir werfen einen Blick auf alltägliche Situationen – und was sich hinter scheinbar „auffälligem“ Verhalten oft wirklich verbirgt.

  • Warum viele Verhaltensauffälligkeiten eigentlich Bewältigungsstrategien sind

  • Was bei emotionalem Stress im kindlichen Gehirn passiert

  • Was das Stresstoleranzfenster ist

  • Wie du dein Kind in starken Gefühlen begleiten kannst


All das hilft dir, die Sprache hinter dem Verhalten besser zu verstehen, bewusster agieren zu können und die Beziehung zu Kindern zu stärken.



Ich hoffe, du kannst einiges aus diesem Beitrag für dich mitnehmen. Ich wünsche dir viele tolle Erkenntnisse beim Erforschen und Beobachten.


Wenn du tiefer einsteigen möchtest: Zu den Themen Emotionale Stürme, Regulation und Stress halte ich regelmässig auch Vorträge. Mehr dazu findest du unter Veranstaltungen.

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