Nervensystem verstehen: Der Schlüssel zu gelassener Erziehung
- Sabrina Ritz
- 23. Juli
- 6 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 10. Sept.
Was wäre, wenn es eine Abkürzung gäbe? Eine Abkürzung zu den unzähligen Elternratgebern, den gut gemeinten Erziehungstipps, dem ständigen Vergleichen – und auch zu all den Momenten, in denen wir - als Eltern, Grosseltern oder pädagogische Fachpersonen - an uns zweifeln.
Was, wenn wir verstehen könnten, was wirklich hinter dem Verhalten von Kindern steckt – und entsprechend reagieren könnten?
Nicht aus dem Reflex heraus. Sondern mit Klarheit. Mit Ruhe. Mit dem Wissen, dass jedes Verhalten ein Ausdruck innerer Zustände ist – oft gesteuert von einem Nervensystem, das gerade überfordert, aktiviert oder auf Rückzug gepolt ist.
Genau das war eine meiner grössten Aha-Erkenntnisse während der Weiterbildung zur Neurosystemischen Integration:
👉 Wenn wir das Nervensystem verstehen, können wir Verhalten ganz neu einordnen – bei Kindern, bei Erwachsenen, bei uns selbst.
Plötzlich wird klar, warum Kinder „ausflippen“, warum wir selbst manchmal lauter werden, obwohl wir es gar nicht wollen – und warum Ruhe oft mehr bewirkt als tausend Worte.
Wenn wir das Nervensystem in seinen Grundzügen begreifen, verändert sich der Blick auf Erziehung, Beziehung und Begleitung grundlegend. Es ist auf lange Sicht eine echte Abkürzung – und sie führt direkt zu mehr Verbindung, Klarheit und Handlungsspielraum.
Blog - Serie: Die Sprache des Nervensystems im Alltag mit Kindern
In dieser neuen Blog-Serie nehme ich dich mit in die Welt des Nervensystems: Warum das Wissen um unser Nervensystem so zentral ist für Erziehung und Beziehung. Wie Stress sich bei Kindern zeigt. Was wir tun können, um unsere Kinder (und uns selbst) besser zu begleiten. Heute starten wir mit einer Einführung ins Thema. Egal, ob du Elternteil, pädagogische Fachperson oder einfach Mensch bist – das Verständnis des Nervensystems ist eine der wirksamsten Möglichkeiten, um mehr Klarheit, Ruhe und Verbindung in dein Miteinander zu bringen.

Das autonome Nervensystem als Schutzsystem
Unser Nervensystem besteht aus verschiedenen Teilen und ist sehr komplex. Für das Thema, das wir hier beleuchten, konzentrieren wir uns auf das autonome Nervensystem. Dieses ist, vereinfacht gesagt, wie unser inneres Alarmsystem. Seine wichtigste Aufgabe ist es, uns zu schützen und am Leben zu halten.
Es arbeitet rund um die Uhr, oft völlig unbemerkt, scannt unsere Umgebung und unser Inneres. Dabei steht folgende Frage im Zentrum: „Bin ich sicher?“ Bei der Bewertung unterscheidet es zwischen Sicherheit, Gefahr und Lebensgefahr.
Das Nervensystem scannt in jedem Moment alles ab und bewertet, ob wir in Sicherheit sind oder in Gefahr.
Diese Einschätzung geschieht blitzschnell, automatisch und grösstenteils unbewusst. Und sie hat direkten Einfluss darauf, wie wir – und unsere Kinder – uns verhalten. Wenn die Einschätzung "sicher" ist, sind wir in Balance und verbunden. Wenn jedoch die Beurteilung "Gefahr" ausfällt, dann wird Alarm geschlagen und es werden entsprechende Reaktionen ausgelöst.
Wichtige Grundlagen: Sympathikus, Parasympathikus, Vagus
Ohne zu tief in die Neurobiologie einzusteigen, hilft ein grobes Verständnis, um Verhalten besser einordnen zu können – und Kinder in ihrer Regulation zu unterstützen.
Wir sprechen vom autonomen Nervensystem, also dem Teil des Nervensystems, der automatisch – ohne unser bewusstes Zutun – arbeitet. Es reguliert z. B. Herzschlag, Atmung, Muskelspannung, Verdauung … und eben auch unsere Stressreaktionen.
Dieses System hat zwei Hauptachsen:
🔥 Sympathikus – der Aktivierungsmodus: Er sorgt dafür, dass wir handeln und aktiv sein können, mobilisiert Energie, schärft die Sinne: Kampf, Flucht, Alarm – oder auch einfach: Konzentration, Bewegung.
🧘🏽 Parasympathikus – der Beruhigungsmodus: Er hilft uns runterzufahren, zu verdauen, zu regenerieren – also zu entspannen, zu verbinden, zu schlafen, in Ruhe zu lernen.

Ein ganz wichtiger Akteur des Parasympathikus ist der Vagusnerv. Er verbindet Hirn, Herz, Lunge, Bauch – und ist eine Art Kommunikationsleitung für unser Sicherheitsgefühl. Er spielt eine zentrale Rolle für unsere Regulation.
Auch dieser wird in zwei Teile unterteilt: den ventralen Vagus und den dorsalen Vagus.
Wenn der ventrale Vagus aktiv ist, fühlen wir uns sicher, verbunden, ruhig – wir können zuhören, mitfühlen, spielen, lernen und fühlen uns in Balance. Sprich: das Nervensystem ist reguliert.
Der dorsale Vagus sorgt in Sicherheit für tiefe Entspannung und Regeneration. Unter Lebensbedrohung ist er für den Totstellreflex verantwortlich - da gehe ich an dieser Stelle jedoch nicht näher darauf ein.
Je nachdem wie diese verschiedenen Teile des Nervensystems aktiv sind, befinden wir uns in unterschiedlichen Zuständen. Im Verlauf der Beiträge werde ich vermehrt auf diese wichtigen Akteure des Nervensystems zu sprechen kommen.
Die Sprache des Körpers
Der Zustand, in dem sich unser Nervensystem befindet, beeinflusst massgeblich, wie wir die Welt wahrnehmen, wie wir uns fühlen und wie wir uns verhalten.
Ob ein Kind sich anspannt, unruhig wird, zappelt, sich zurückzieht, schneller atmet oder plötzlich laut wird – all das sind körperliche Botschaften, die uns Auskunft darüber geben können, ob das Nervensystem in Balance ist oder nicht. Signale, die zeigen können: Hier ist etwas zu viel. Ich fühle mich nicht sicher. Ein Bedürfnis ist nicht gedeckt.
Der Zustand, in dem sich unser Nervensystem befindet, beeinflusst massgeblich, wie wir die Welt wahrnehmen, wie wir uns fühlen und wie wir uns verhalten.
Wenn wir lernen, diese Zeichen zu sehen, entsteht eine neue Tiefe im Verstehen. Denn: Regulation beginnt nicht im Kopf, sondern im Körper. Und unser Nervensystem sendet oft schon lange vorher Hinweise über den Körper – bevor es überhaupt „kracht“.
Wie Nervensysteme miteinander kommunizieren
Nervensysteme sprechen miteinander – ohne Worte.
Ein eindrückliches Beispiel für die Kommunikation von Nervensystem zu Nervensystem ist Massenpanik: Wenn ein einzelner Mensch in Panik gerät, überträgt sich dieser Zustand blitzschnell auf andere. Die Nervensysteme „lesen“ Gefahr und reagieren synchron: Flucht, Alarm, Chaos.
Regulation ist ansteckend – genauso wie Stress.
Wir alle senden ununterbrochen Signale aus: über Körpersprache, Atmung, Mimik, Stimme, Spannung. Und wir nehmen ebenso ununterbrochen die Signale anderer wahr – bewusst oder unbewusst. Vor allem Kinder. Ihre Nervensysteme sind wie feine Antennen: Ist mein Gegenüber sicher? Ruhig? Verbunden? Oder angespannt, hektisch, abwesend?
Ein Beispiel: Ein Kind ist gerade ausser sich. Du sagst ruhig: „Ich bin da, alles gut.“ Doch dein Körper sendet: erhöhter Puls, angespannte Schultern, flache Atmung. Das Kind wird nicht auf deine Worte reagieren – sondern auf dein Nervensystem.
Denn Regulation ist ansteckend. So wie Anspannung sich überträgt, überträgt sich auch Ruhe. Und genau deshalb bist du als erwachsene Bezugsperson so wichtig – nicht mit der „richtigen Reaktion“, sondern mit deiner inneren Haltung und deinem regulierten Nervensystem.

Warum spielt das Nervensystem in der Erziehung eine so zentrale Rolle?
Wenn wir verstehen, wie unser Nervensystem funktioniert, eröffnet das neue Möglichkeiten: für mehr Gelassenheit, für echten Kontakt – und für ein tieferes Verständnis im Alltag mit Kindern. In der Begleitung von Kindern geschieht dies in zwei Richtungen:
1. Das eigene regulierte Nervensystem als Schlüsselfaktor
Bevor wir das Verhalten von Kindern wirklich verstehen können, braucht es einen Blick nach innen: Wie steht es um mein eigenes Nervensystem in diesem Moment? Bin ich präsent? Verbunden – oder selbst im Stressmodus?
Denn: Wie wir gesehen haben, interagieren unsere Nervensysteme. Und Kinder reagieren nicht nur auf Worte, sondern vor allem auf unsere Präsenz und unsere innere Verfassung. Ihr Nervensystem spürt, ob wir sicher und reguliert sind – oder nicht.
Das heisst: Ein reguliertes Nervensystem der Bezugsperson ist oft der erste Schritt zu einem regulierteren Kind. Es ist wie ein innerer Kompass, der Orientierung gibt – selbst dann, wenn aussen gerade alles chaotisch ist.
Das Verhalten des Kindes besser verstehen
Wer mich und meine Arbeit kennt, weiss: Es geht mir immer ums Verstehen – und darum, Verständnis zu schaffen. Verstehen braucht manchmal mehr Zeit, mehr Hinsehen, mehr Hinhören. Aber es ist auf lange Sicht der nachhaltigere Weg.
Verständnis schafft Verbindung statt Kontrolle, Vertrauen statt Machtkampf – und ermöglicht Wachstum auf beiden Seiten: beim Kind und bei uns Erwachsenen.
Denn Kinder wollen sich oft gar nicht „schlecht benehmen“ – sie können in dem Moment einfach nicht anders. Ihr Nervensystem steuert mit – und ist oftmals einfach überfordert. Es entscheidet in erster Linie: Bin ich sicher oder nicht? Basierend darauf werden Reaktionen in Gang gesetzt.
Wenn wir wissen, wie das Nervensystem funktioniert, erkennen wir frühzeitig, wann ein Kind (oder wir selbst) überfordert ist und das Nervensystem in Dysbalance gerät– und was es dann braucht.
Je besser wir die feinen Anzeichen von Überforderung wahrnehmen, desto eher können wir proaktiv handeln – bevor es kracht.
Das bedeutet: Mehr agieren, statt reagieren. Weniger Eskalationen, weniger Machtkämpfe – und dafür mehr Verbindung und Sicherheit. Wir bringen unser eigenes Nervensystem in Balance – und schaffen damit den Raum, dass auch das Kind in Regulation kommen kann.
Ausblick auf die nächsten Beiträge
Du hast nun erfahren, wie das autonome Nervensystem kindliches Verhalten beeinflusst – und warum Selbstregulation, Verbindung und ein sicherer Umgang mit Stress im Alltag bei uns Erwachsenen beginnt. In den kommenden Beiträgen bleiben wir bei den Themen Nervensystem, Stress und Verhaltensauffälligkeiten.
Ich zeige ich dir:
Wie sich Stress bei Kindern zeigt (oft ganz anders als erwartet)
Warum Verhaltensauffälligkeiten meist Bewältigungsstrategien sind
Was bei Stress und emotionalen Stürmen im Hirn passiert
Was du tun kannst, um dein Kind (und dich selbst) zu regulieren
Wie schwerwiegende (traumatische) Ereignisse unser Nervensystem prägen (u. A. auch schwere Geburten)
Wenn du tiefer einsteigen möchtest: Zu den Themen Emotionale Stürme, Regulation und Stress halte ich regelmässig auch Vorträge. Mehr dazu findest du unter Veranstaltungen.
Ich hoffe, du kannst einiges aus diesem Beitrag für dich mitnehmen. Ich wünsche dir viele tolle Erkenntnisse beim Erforschen und Beobachten.




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