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Unruhe, Verhaltensauffälligkeiten, Ängste – ein Nervensystem im Alarmzustand

Viele Eltern, die ich begleite, berichten mir, dass sie immer wieder ähnliche Rückmeldungen aus der Schule bekommen:


  • „Ihr Kind ist zu laut.“

  • „Es ist unruhig, impulsiv und stört oft den Unterricht.“

  • „Es ist gemein zu anderen oder gerät ständig in Streitereien.“

  • „Es hat Mühe mit Veränderungen und tut sich schwer, sich einzufügen.“


Vielleicht kennst auch du solche Rückmeldungen zu deinem Kind. Solche Aussagen verunsichern. Die Eltern fragen sich: Was mache ich falsch? Warum verhält sich mein Kind so – obwohl es doch eigentlich weiss, wie es sich benehmen sollte? Hat es vielleicht ADHS?


In diesem Beitrag der Blog-Serie zum Thema Nervensystem gehe ich darauf ein, welche Verhaltensweisen auf ein Nervensystem im Dauer-Alarmzustand (Hyperarousal) hinweisen können, wie es dazu kommen kann und warum insbesondere die sozialen Fähigkeiten dadurch beeinträchtigt sind.


Ein wichtiger Hinweis vorweg – Abgrenzung von Diagnosen


Viele der Verhaltensweisen, die ich in diesem Beitrag beschreibe – Unruhe, sensorische Empfindlichkeit, Ablenkbarkeit, starke Emotionen, soziale Schwierigkeiten oder Rückzug – können auch im Zusammenhang mit Diagnosen wie ADHS, Autismus oder Hochsensibilität auftreten. Die Grenzen sind oft fliessend, und es kommt immer wieder zu Fehleinschätzungen, weil sich die Symptome ähneln.


Ein dauerhaft aktiviertes Nervensystem (Dauerstress oder sogenanntes Hyperarousal) kann sehr ähnliche Reaktionsmuster zeigen wie die genannten Diagnosen.


Ich treffe in diesem Beitrag keine diagnostischen Aussagen, sondern betrachte das Verhalten aus der Perspektive des Nervensystems und der Stressregulation – also wie chronische Anspannung das Verhalten von Kindern beeinflusst.


Mein Ziel ist es, Eltern und Fachpersonen zu unterstützen, Verhalten aus einem anderen Blickwinkel zu verstehen – unabhängig von einer Diagnose, und ohne diese zu ersetzen.


Ein Junge hält sich die Ohren zu und schreit.
Ständige Unruhe, Bewegungsdrang, Impulsivität, Reizbarkeit oder starke Emotionen können Ausdruck eines Nervensystems sein, das unter Dauerstress ist.

Verhaltensauffälligkeiten sind Bewältigungsstrategien


Viele Kinder, die solche Rückmeldungen erhalten, haben etwas gemeinsam: Ihr Nervensystem steht unter Dauerstress. Sie wollen sich regulieren, können es aber nicht.


Typische Anzeichen eines dauerhaft aktivierten Nervensystems:

  • Ständige Unruhe oder Bewegungsdrang

  • Impulsivität

  • Reizbarkeit, Wutausbrüche, plötzliche Stimmungsschwankungen

  • Schwierigkeiten, soziale Signale zu lesen und dadurch Herausforderungen in sozialen Interaktionen

  • Aggressives Verhalten

  • Schlafprobleme

  • Zunehmende Ängste und Vermeidungsverhalten:


Manche Kinder entwickeln mit der Zeit (irrationale) Ängste – vor neuen Situationen, Fehlern oder Trennungen. Das Nervensystem meldet „Gefahr“, obwohl keine reale Bedrohung besteht. Vermeidung wird dann zu einer Überlebensstrategie – ein Weg, Kontrolle zurückzugewinnen.


Das von Aussen betrachtet "auffällige" Verhalten ist also ein Versuch, mit Stress umzugehen. Das Kind steht innerlich unter Spannung, ist reizoffen und schnell überfordert.


Wenn wir verstehen, dass Verhalten immer Ausdruck des inneren Zustands ist, öffnet sich eine neue Perspektive: Diese Kinder sind nicht „schwierig“. Sie haben es schwierig.


Gründe für ein Nervensystem im dauerhaften Alarmzustand


Zurzeit habe ich viele Anfragen von Eltern, deren Kinder seit Längerem eine oder mehrere dieser Anzeichen zeigen. Sie fühlen sich verunsichert und oftmals hilflos. Sie fragen sich: Warum ist das so?


Wichtig: Selbst sehr präsente, liebevolle Eltern können Kinder haben, deren Nervensystem überlastet ist. Es liegt nicht immer an der Erziehung.


Wie bereits in früheren Beiträgen erwähnt, ist das Gefühl von Sicherheit die Grundlage eines regulierten Nervensystems. Sicherheit ist ein subjektives Empfinden – nicht das, was „objektiv“ vorhanden ist, sondern das, was spürbar ist.


Im Folgenden stelle ich drei mögliche Gründe dar, warum das kindliche Nervensystem in einen dauerhaften Alarmzustand geraten kann.


  1. Effektiv fehlende Sicherheit im Hier und Jetzt


Wenn Kinder ständig Unsicherheit erleben – etwa durch wechselnde Bezugspersonen, ein belastendes und instabiles Umfeld, Krankheit, Druck und Konflikte in der Schule – und keine verlässliche Co-Regulation erfahren, bleibt ihr Nervensystem in erhöhter Wachsamkeit und dauerhafter Aktivierung.


  1. Übernommener Stress im Familiensystem


Kinder spüren nicht nur ihren eigenen Stress, sondern auch die Anspannung ihrer Bezugspersonen. Ein dysreguliertes Familiensystem (z. B. dauernde Hektik, unausgesprochene Konflikte, hohe Erwartungen) kann das kindliche Nervensystem in Daueraktivierung halten. Die für das Kind unerlässliche Co-Regulation fehlt. (Mehr dazu im nächsten Beitrag)


  1. Frühere Erfahrungen & Prägungen


Selbst wenn die Grundbedürfnisse des Kindes — nach Sicherheit, Nähe und Geborgenheit — heute erfüllt sind, kann eine frühe Belastung das Nervensystem derart prägen, dass es weiterhin auf „Alarm“ steht. Mögliche Ursachen können schwierige Geburten, hoher mütterlicher Stress in der Schwangerschaft, medizinische Eingriffe, frühe Trennungen oder andere prägende Erlebnisse sein.


Ein dysreguliertes Nervensystem bedeutet also nicht zwingend, dass etwas „falsch“ läuft – sondern, dass das Kind gelernt hat, in erhöhter Wachsamkeit zu überleben.


Eine Mutter hält ihren Sohn auf dem Arm. Daneben hält ihr Partner die Tochter auf dem Arm.
Selbst wenn ein Kind in einem liebevollen, sicheren Umfeld aufwächst, kann sein Nervensystem durch frühere Erfahrungen so geprägt sein, dass es weiterhin auf „Alarm“ eingestellt bleibt.

Kein Verhaltensproblem, sondern ein Regulationsproblem


Das autonome Nervensystem reagiert also auf jede Form von Unsicherheit – nicht nur bei echter Gefahr. Wenn es zu oft Alarm schlägt (Sympathikus ständig aktiv), entsteht Daueranspannung: Herzklopfen, Muskelspannung, Stresshormone. Der Körper bleibt in Bereitschaft, auch ohne akute Bedrohung


Kinder spüren das im Körper, können es aber nicht benennen. Sie zeigen dies mit ihrem Verhalten.


Beispiele:

  • Das Kind, das sich ständig bewegt, redet oder lacht, versucht Spannung abzubauen.

  • Das Kind, das laut wird oder stört, sucht unbewusst Kontakt, weil es Sicherheit im Aussen sucht.

  • Das Kind, das wegläuft oder sich zurückzieht, schützt sich vor Überforderung.


Oftmals wirkt das Verhalten dieser Kinder so, als wollten sie keine Nähe – dabei sehnt sich ihr Nervensystem genau danach. Denn Verbundenheit gibt Sicherheit. Sie können sie nur im Stressmoment nicht zulassen.


“The children who need love the most, will always ask for it in the most unloving ways” - Russel Barkley

Diese Kinder brauchen keine striktere Erziehung, keine Sanktionen oder strengere Regeln, sondern ein Umfeld, das ihnen hilft, sich zu regulieren und Sicherheit wiederzufinden.


Wenn das soziale Nervensystem offline geht


Das soziale Nervensystem (ventraler Vagus) wird aktiv, wenn wir uns sicher fühlen. Dann gelingt Nähe, Blickkontakt und Empathie. Im Dauer-Alarm wird dieses System „heruntergefahren“: Das Nervensystem schaltet auf Gefahrenerkennung und Schutz

Stehen wir unter Stress sind unsere sozialen Fähigkeiten stark eingeschränkt.

In diesem Zustand können Kinder soziale Signale kaum wahrnehmen oder interpretieren sie falsch – sie fühlen sich schnell angegriffen, ausgeschlossen oder ausgelacht. Kleine Auslöser führen zu grossen Reaktionen


Der Zustand unseres Nervensystems beeinflusst also massgeblich, wie wir andere Menschen und die Welt wahrnehmen, wie wir uns fühlen, wie wir denken und wie wir handeln. Das ist Biologie. Mit diesem Blick erkennen wir hinter „provozierendem“ oder „störendem“ Verhalten kein unwilliges Kind – sondern eines, das nach Halt sucht.


Sechs Kinder halten sich an den Händen und laufen auf die Kamera zu.
Wenn wir uns sicher fühlen, ist unser soziales Nervensystem aktiv - dann gelingt Nähe, Blickkontakt, Empathie. Im Alarmzustand werden genau diese Fähigkeiten blockiert.

Perspektivwechsel


Kinder, deren Nervensystem im Alarm ist, zeigen ihr Bedürfnis nach Sicherheit nicht mit Worten, sondern mit Verhalten. Je lauter oder abweisender dieses Verhalten wirkt, desto grösser ist meist das innere „Ich brauche dich.“


Beispiele für häufige Fehleinschätzungen:


  • "Respektlos": Im Unterricht platzt ein Kind immer wieder mit Antworten heraus, ohne sich zu melden, oder widerspricht der Lehrperson laut. Es wirkt trotzig oder respektlos – doch eigentlich versucht sein Nervensystem, Kontrolle zurückzugewinnen, um sich sicher zu fühlen.


  • "Dominant": Ein Kind bestimmt jedes Spiel, will alles entscheiden. Es wirkt dominant – doch eigentlich versucht es, Sicherheit herzustellen in einer Welt, die sich unberechenbar anfühlt.


  • "Provokant": Ein Kind reizt Erwachsene bewusst, testet Grenzen, lacht, wenn es Ärger gibt. Innen fragt es: „Bleibst du, auch wenn ich schwierig bin?“


  • "Aggressiv": Beim Spielen wird ein Kind leicht berührt. Es empfindet das als Angriff und stösst das andere Kind weg.


  • "Aufmerksamkeitsheischend": Ein Kind redet laut, rennt, unterbricht ständig. Es möchte doch nur Aufmerksamkeit, heisst es. Aber in Wahrheit ruft es: „Siehst du mich? Bin ich sicher bei dir?“


Solche Etiketten beschreiben nur das sichtbare Verhalten, nicht den inneren Zustand. Wenn wir nur bewerten, übersehen wir die eigentliche Botschaft: „Ich fühle mich unsicher – hilf mir, mich wieder sicher zu fühlen.“


Ausblick


Kinder brauchen kein perfektes Umfeld, sondern sichere Erwachsene, die ihr Nervensystem verstehen. Wenn wir ihr Verhalten als Sprache erkennen, können wir beginnen, wirklich zuzuhören – auch dann, wenn es laut, chaotisch oder widersprüchlich wird.


Im nächsten Beitrag zeige ich dir, wie du dein eigenes Nervensystem als sicheren Anker nutzen kannst, um dein Kind in stressigen Momenten zu begleiten – durch Co-Regulation.




Ich hoffe, du kannst einiges aus diesem Beitrag für dich mitnehmen.


Wenn du tiefer einsteigen möchtest: Zu den Themen Emotionale Stürme, Regulation und Stress bei Kindern halte ich regelmässig auch Vorträge. Mehr dazu findest du unter Veranstaltungen.


Erkennst du dein Kind im Beitrag wieder? Fühlst du dich oft hilflos und weisst nicht genau, wie du dein Kind unterstützen kannst? Melde dich gerne bei mir für ein unverbindliches Erstgespräch und wir schauen, wie ich euch unterstützen kann.





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