"Da bin ich sehr pingelig, wer diesen Job übernehmen darf. Das muss jemand sein, der echt schlau ist und wirklich was auf dem Kasten hat."
Das war die Antwort des Klassenlehrers auf die Frage eines 6. Klässlers, ob er am Theaterprojekt Licht und Technik übernehmen darf.
Ich sass hinten im Schulzimmer. "Hat der das grad wirklich gesagt?", ging mir durch den Kopf. Die Aussage traf mich wie ein Schlag. Innerlich explodierte ich fast. Zwei Stimmen in mir kämpften gegeneinander.
"Das kannst du doch nicht so stehen lassen. Los steh auf, sag was."
"Dann stellst du ihn ja total bloss, diesen Lehrer. Bleib sitzen."
Der harmoniebedürftige Teil in mir setzte sich durch. Ich blieb sitzen.
Und doch liess ich es nicht so stehen. Mehr dazu weiter unten.
Unsere Aussagen beeinflussen das Selbstbild der Kinder
Die oben geschilderte Situation erlebte ich letztens während einer Stellvertretung an einer 6. Klasse. An einem Morgen arbeiteten wir mit der Parallelklasse zusammen, da die beiden Klassen gemeinsam ein Theaterprojekt gestalten. Wir waren dabei, die verschiedenen Rollen und Aufgaben zu verteilen.
Nachdem die Schauspielrollen verteilt waren, ging es darum, alle anderen Helferrollen zuzuteilen: BühnenbildnerInnen, Licht und Technik, Platzanweiser etc.
Solche Aussagen erschüttern das Selbstbild von Kindern zutiefst.
Als sich der Junge für den Licht & Technik Job meldete, freute ich mich. Ich kannte ihn bereits recht gut und wusste, wie negativ sein Selbstbild war. So oft sagte er während des Unterrichts: "Sie ich bin zu dumm für das. Ich kann das nicht" oder "Sie, ich hab nur eine 3.8. Ich bin zu dumm." Während meiner Stellvertretung in der Klasse habe ich mehrere Gespräch mit ihm geführt und versucht, ihn zu stärken. Doch diese Glaubenssätze sitzen so tief.
Und dann dieser Hammerschlag. "Da bin ich sehr pingelig, wer diesen Job übernehmen darf. Das muss jemand sein, der wirklich schlau ist und was auf dem Kasten hat."
Diese Aussage ist verheerend! Und erst noch zu einem sehr verunsicherten 6. Klässler mitten in der Pubertät, der wenig Selbstvertrauen hat und vor all seinen etwa 40 Klassenkameraden!
Solche Aussagen erschüttern das Selbstbild von Kindern zutiefst.
Was der Schüler wahrscheinlich daraus mitnimmt: "Ich bin zu dumm dafür." Und damit wird er in seinem eigenen leider negativen Selbstbild wieder bestätigt.
Und auch bei diesem Schüler zeigt sich dieser fehlende Glaube an sich selbst in seinem Verhalten. Er verhielt sich oft laut, wanderte im Zimmer herum, sehr unruhig, oft in Konflikte verwickelt, stark im Aussen, grosse Konzentrationsschwierigkeiten... Mehr zum Thema 'Selbstbild' und wie es sich im Verhalten der Kinder widerspiegelt, erfährst du im Beitrag 'Selbstbilder: Was 4. Klässler über sich denken'.
Es geht um das WIE
Ich möchte auch hier betonen: Es geht nicht darum, Kindern allen Frust zu ersparen, sie vor Rückschlägen zu bewahren und mit Samthandschuhen zu behandeln. Überhaupt nicht! Es ist so wichtig, dass Kinder lernen, mit Rückschlägen und Frust umzugehen.
Aber: Es geht um die Art und Weise WIE wir mit ihnen sprechen.
... um die Art und Weise wie wir zu etwas 'Nein' sagen
... wie wir mit ihnen in Beziehung treten - auf Augenhöhe oder aus einem Machtgefälle heraus
Bitte liebe Lehrpersonen, seid euch über die Macht eurer Worte bewusst! Ich weiss, dass es im hektischen Schulalltag oft chaotisch zu und her geht, dass es anstrengend ist und einige Kinder uns als Lehrpersonen an die Grenzen unserer Nerven treiben.
Und doch: Wir sind die Erwachsenen. Und um es in den Worten von Jesper Juul zu sagen - wir tragen die Verantwortung für die Beziehung zum Kind!
Es geht um die Art und Weise WIE wir mit Kindern sprechen und in Beziehung treten.
Mögliche Alternativen zur Reaktion des Lehrers
Achtsame Antwort: 'Das können wir nachher gemeinsam unter 4 Augen besprechen.' So wird das Kind nicht blossgestellt.
Gespräch suchen: Im Gespräch mit dem Jungen erklären, was für die Aufgabe wichtig ist und was sie alles beinhaltet. Nachfragen, ob er sich das zutraut, wo er Unterstützung braucht oder ob vielleicht doch eine andere Aufgabe besser geeignet ist für ihn. Das aktiviert die Selbstreflexion und gibt dem Kind die Möglichkeit, mitzubestimmen.
Probephase: Dem 6. Klässler eine Chance geben. Dass er die Aufgabe mit jemandem zusammen übernimmt. Ihn dabei unterstützen, dass er diese Aufgabe meistern oder zumindest mithelfen kann. Dies fördert die Selbstwirksamkeit des Kindes und lässt es innerlich wachsen.
Weitere Impulse zum Thema achtsame Kommunikation findest du hier.
Können solche Aussagen wieder 'gut gemacht' oder überschrieben werden?
Ich behaupte nur schwer. Es kommt jedoch sehr auf die Resilienz des Kindes an und woran es seinen eigenen Selbstwert festmacht. Bei Kindern, die wenig Selbstvertrauen und innere Stärke haben, sitzen solche Worte sehr tief.
Grundsätzlich braucht es jeweils ein Vielfaches mehr an Erfolgserlebnissen und positiven Bestärkungen, um eine negative Aussage zu überschreiben.
Wie habe ich reagiert?
Als ich am gleichen Nachmittag diese Klasse unterrichtete, nahm ich die Situation vom Morgen auf. Ich teilte der Klasse mit, dass mich eine Aussage des anderen Lehrers am Morgen erschüttert und traurig gemacht hat.
Ich fragte die Klasse, ob es jemandem ähnlich ging und eine Idee hat, von welcher Situation ich spreche. Ein Junge streckte auf. Er schilderte die Situation und konnte die Aussage des Lehrers Wort für Wort wiedergeben. Auch bei ihm ist sie hängen geblieben.
Es braucht sehr viele Erfolgserlebnisse und positive Bestärkungen, um solche fatalen Aussagen zu überschreiben.
Wir sprachen in der Klasse darüber, was diese Aussage wohl bei dem Jungen ausgelöst hat, der die Frage gestellt hat? Oder was sie bei Schülern auslöst, die gerne diese Aufgabe Licht und Technik übernehmen möchten und dann auch abgelehnt werden.
Spannende Gespräche entstanden. Es ging nicht darum, mit dem Finger auf jemanden zu zeigen oder jemanden blosszustellen.
Was mir wichtig war:
Nicht okay: Den Kindern aufzuzeigen, dass solche Aussagen nicht okay sind. Auch nicht von Lehrpersonen.
Empathieförderung: Den Kindern mitzugeben, wie kraftvoll unsere Worte sind und was wir mit ihnen bei anderen auslösen können.
Growth Mindset: Da wir gemeinsam das Thema Fixed Mindset und Growth Mindset bereits besprochen hatten, konnte ich in dieser Situation darauf zurückgreifen. Es geht darum, dass unser Gehirn sich immer weiterentwickelt. Wir können immer Neues dazulernen. Niemand ist einfach 'dumm' oder 'schlau' geboren. Es kann sein, dass du eine bestimmte Fähigkeit noch nicht hast, aber du darfst es noch lernen, wenn du bereit bist, dich anzustrengen.
Selbstbild: Egal was andere über dich sagen (auch Erwachsene!), du kannst selbst entscheiden, was du über dich selbst denkst. Definiere dich nie darüber, was andere sagen oder vielleicht über dich denken. Meine Gedanken sind wie Samen. Ich entscheide, welche Samen ich säen will.
Unterrichtseinheit zum Thema 'Selbstbild'
Und den restlichen Nachmittag verbrachten wir damit, uns mit unseren Selbstbildern zu beschäftigen.
Was möchte ich ab jetzt von mir denken?
Welche Gedanken stärken mich / geben mir ein gutes Gefühl?
Welche Gedanken möchte ich nicht mehr denken?
Was kann ich tun, wenn jemand etwas zu mir sagt, dass mich klein fühlen und an mir zweifeln lässt?
Dafür führte ich sie durch eine Meditation in ihren eigenen inneren Garten. Unser innerer Garten stellt unsere Innenwelt, unsere Gedanken und Gefühle dar.
In der Meditation gingen die Kinder ihrem Selbstbild auf den Grund und wählten selbst neue Gedanken aus, die sie als Samen säen konnten und die zu schönen Blumen heranwachsen dürfen.
Achte auf deine Worte, liebe Lehrperson
Abschliessend möchte ich nochmal hervorheben: Es geht mir nicht darum, jemanden anzuprangern. Ich weiss, wie herausfordernd der LehrerInnenalltag ist. Mir ist auch bewusst, wie viele wunderbare Lehrpersonen es da draussen gibt, die mit soviel Herzblut dabei sind und ihre Kinder achtsam und bewusst durch den hektischen Schulalltag begleiten. Meine Hochachtung vor eurer Arbeit. 🙏🏼
Mit liegt es am Herzen, mehr Bewusstsein dafür zu schaffen, wie kraftvoll unsere Worte sind und was wir mit ihnen bewirken können - im Positiven wie auch im Negativen. Und du als Lehrperson hast die Möglichkeit mit deinem Vorbild und im Speziellen auch deiner achtsamen Kommunikation so viel Positives zu bewirken und Kinder zu stärken.
Die Art, wie wir mit unseren Kindern sprechen, wird ihre innere Stimme.
Teilweise sind es ganz subtile Bemerkungen oder auch nur unsere Körpersprache, Mimik oder Gestik, die dem Kind zu spüren geben, dass es nicht gut so ist, wie es ist. Es passiert leider so schnell und ist uns meist gar nicht bewusst.
Als Lehrpersonen haben wir grossen Einfluss darauf, welche Gedanken Kinder säen und welches Selbstbild - welches Pflänzchen - sich daraus entwickelt. 🌱
✍️ Hinterlasse gerne einen Kommentar. Welche Aussagen von Lehrpersonen sind bei dir hängengeblieben? Was hat dich gestärkt, was eher geschwächt? Wenn du selbst Lehrperson bist, wann gelingt dir eine achtsame Kommunikation, wann fällt es dir eher schwer?
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