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Sabrina Ritz

Gefühle #4: Ängste im Kindesalter verstehen und begleiten

Nach einer längeren Sommerpause geht es weiter mit unserer Beitragsreihe zum Thema Gefühle.


Hier eine kurze Zusammenfassung, was bisher in der Beitragsreihe thematisiert wurde: Im ersten Beitrag Gefühle #1: Emotionsregulation bei Kindern und Erwachsenen ging es darum, wie Gefühle entstehen, welchen Einfluss unsere Gedanken bei der Entstehung von Gefühlen haben und wie wir Gefühle regulieren können.


Im Beitrag Gefühle #2: Die 8 häufigsten Ursachen von WUT 💢 wurden die 7 Basisgefühle beschrieben, die Ursachen von Wut und welche Botschaften sich dahinter verbergen können.


Wie du Kinder dabei unterstützt, ihre Wut zu regulieren und was du tun kannst, wenn dein Kind einen Wutanfall hat, kannst du im Gefühle #3: 10 Tipps zum Umgang mit Wut nachlesen.


Und worum gehts in diesem Beitrag?


Um die individuellen Reaktionsmuster bei Ängsten zu verstehen, werfen wir zunächst einen Blick auf die Frage "Was ist eigentlich Angst?".


Danach sehen wir uns die häufigsten Ängste im Kindesalter an und beleuchten zwei konkrete Beispiele. Zum Schluss erfährst du, mit welchen 8 Schritten du Kinder achtsam durch Angstgefühle begleiten kannst und was du unbedingt vermeiden solltest.

Kind mit weitaufgerissenen Augen und auf die Fingerspitzen beissend
Gut gemeinte Sätze wie "Da musst du doch keine Angst haben. Das ist doch nur ..." führen dazu, dass das Kind denkt "Ich bin falsch. Was ich fühle ist falsch."

Was ist eigentlich Angst?


Ganz Salopp gesagt ist Angst unsere Alarmanlage. Sie schützt uns vor Gefahren und sichert unser Überleben. Für unsere ältesten Vorfahren gehörte die Angst zu den wichtigsten Emotionen. Sie waren ständig realen Bedrohungen ausgesetzt. Hätte ein Steinzeitmensch keine Angst verspürt, hätte ihn dies in kürzester Zeit das Leben kosten können.


Sobald unsere inneren Alarmglocken losgehen, tendieren wir noch heute in Stress- und Angstsituationen zu drei Reaktionsmustern, die auf unsere frühesten Vorfahren zurückgehen:

  1. Flight / Flucht: Bsp. sich zurückziehen, wegrennen, Situationen und Handlungen vermeiden

  2. Fight / Kampf: Bsp. aggressiv werden, schreien, schlagen, in die Konfrontation gehen

  3. Freeze / Erstarren: (in Steinzeit: tot stellen) Bsp. Resignation, starke innere Anspannung, Schockstarre,

💭 Was denkst du, welches ist dein häufigstes Reaktionsmuster?

💭 Welche beobachtest du bei deinen Kindern?


👉🏼 Wenn du dich weiter in die Flight - Fight - Freeze Theorie vertiefen möchtest, kannst du hier mehr dazu nachlesen.


Drei Ebenen der Angstreaktion


Angst kann sich auf drei unterschiedlichen Ebenen zeigen:

  1. kognitiv: Dazu zählen all unsere Gedanken, Sorgen, all die "Was-wäre-wenn...", mit denen wir uns ausmalen, was alles Schlimmes passieren könnte.

  2. physiologisch: Hierzu gehören alle körperlichen Reaktionen, wie z.B. Zittern, Schwitzen, Schwindel, Herzrasen, Atemnot oder Engegefühl

  3. motorisch: Dazu zählen die Reaktionen auf Verhaltensebene (Fight / Flight / Freeze)

Viele unserer heutigen Ängste finden"nur" in unserem Kopf statt und sind oftmals nicht überlebenswichtig, da nur selten eine reale Bedrohung herrscht. Und doch laufen unbewusst noch dieselben Reaktionsmuster in uns ab wie in der Steinzeit.


Abgrenzung: Angst, Angststörung, Phobien


In diesem Beitrag stehen die "normalen" Ängste von Kindern im Zentrum. Auf diagnostizierte Angststörungen oder Phobien gehe ich nicht ein.


Zur Abgrenzung:

  • Phobien: Eine Phobie ist eine extreme Angst vor bestimmten Objekten oder Situationen, Bsp. Spinnen. Es ist eine irrationale Angst. Auch wenn es logisch gesehen gar keinen Sinn macht, hat die Person in dem Moment extreme Angst. Die Reaktion läuft dabei unterbewusst ab und die Person kann darauf häufig keinen Einfluss nehmen. Eine meist erfolgreiche Möglichkeit, Phobien aufzulösen, ist die Hypnose, da sie zum Unterbewusstsein hervordringen kann.

  • Angststörung: Wenn Ängste besonders stark über mehrere Monate auftreten und die Entwicklung des Kindes beeinträchtigen, häufigste psychische Störung bei Kindern. Wichtig: Hilfe holen.

So, das war jetzt genug der Theorie. Nun gehts weiter mit den häufigsten Ängsten im Kindesalter.



Die häufigsten Ängste im Kindesalter


Beim Thema Ängste lohnt es sich einen Blick in die Entwicklungspädagogik zu werfen, um zu verstehen, welche Ängste entwicklungsbedingt sind und somit "normal" sind und bei welchen es Sinn macht, genauer hinzusehen.


Ängste aus Sicht der Entwicklungspädagogik


Mit dem Alter des Kindes verändert sich auch die Art der Ängste. Hier ist eine kurze Übersicht über typische Ängste auf den einzelnen Entwicklungsstufen.

  • gegen Ende 1. Lebensjahres: oftmals Angst vor fremden Leuten, lauten Geräuschen

  • Kleinkinder: Angst im Dunkeln, vor Tieren, vor dem Alleinsein, Trennungsängste

  • 4 - 6 Jährige: Angst vor Fantasiegestalten, Monster, magische Vorstellungen vermischen sich mit Realität, Fantasiegestalten existieren in ihrer kindlichen Welt wirklich. Oder auch vor Naturgewalten wie Blitz und Donner, können den Schlaf stören

  • Grundschulalter: Die vorher genannten magischen Ängste nehmen ab. Neue Ängste entstehen oft im Zusammenhang mit Schule und Gesundheit, Bsp. sich zu Blamieren, vor Versagen, Prüfungen, Krankheiten, Verletzungen, Tod, Katastrophen, Kriege

  • Jugendalter: soziale Ängste, gesteigerte Leistungsangst

All diese Ängste sind in einem gesunden Mass wichtig für die Entwicklung des Kindes. Nun folgen zwei konkrete Beispiele.


Beispiel Lenja: Angst vor grusliger Figur


Eines Morgens kam Lenja, 6 Jahre alt, in die Schule und wirkte sehr müde. Sie erzählte mir, dass sie schlecht geträumt hatte. Als sie mir davon berichtete, stellte sich heraus, dass ihr ständig diese gruselige rote Figur im Kopf herumschwirrte, die sie am Vortag in einem Buch gesehen hatte. "Sie macht mir Angst", meinte sie.

Kleines blondes Mädchen hält die Hände vor die Augen. Schwarzer Hintergrund.
Angst vor der Dunkelheit oder vor magischen Figuren ist bis zum etwa 6. Lebensjahr ganz normal.

Mit ihren älteren Schwestern thematisierten wir zu der Zeit "Das alte Ägypten". Dabei hatten wir einige Sachbücher im Schulzimmer, in denen unter Anderem Bilder von ägyptischen Göttern vorkommen. Nun scheint es, dass Lenja durch das Buch geblättert hatte und dabei dieses Bild sah, welches ihr einen Schrecken einjagte und nicht mehr aus dem Kopf ging.



Ein grusliges Bild und schon ist die Angst geboren - so schnell kann es, vor allem bei jüngeren Kindern, gehen. Bei Lenja spielte sich die Angst vor allem auf der kognitiven Ebene ab. Diese Angst ist sehr typisch für Lenja's Entwicklungsstufe und ist mit einfachen Schritten aufzufangen.


Weiter unten kannst du lesen, wie du achtsam auf solche Ängste reagieren kannst und das Kind dabei auch noch Spass hat 😉


Beispiel Fynn : Prüfungsangst


Fynn, 11 Jahre alt, geht in die 5. Klasse. Er hat starke Prüfungsangst, die sich stets verschlimmert hat. Mittlerweile treten die Symptome bereits auf, sobald er in einer annähernd prüfungsähnlichen Situation (z.B. Aufgaben mit Zeitlimite) ist.


Seine Symptome:

  • starkes Schwitzen an den Händen

  • sein Körper erstarrt

  • extreme Anspannung

  • Zittern am ganzen Körper

  • Blackout

  • Lernblockade

  • kann nicht mehr klar denken

  • negative Gedankenschleifen

Bei Fynn zeigt sich die Angst auf allen drei Ebenen, jedoch besonders stark auf physischer Ebene. Er ist in einem typischen Freeze Modus und fühlt sich der Angst total ausgeliefert. Die dadurch entstehenden Misserfolgserlebnisse in der Schule schwächen seine Selbstwirksamkeit, sein Selbstvertrauen und sein Selbstbild.


Diese Form von Angst ist nicht mehr in einem "gesunden" Rahmen, da sie die emotionale Gesundheit des Kindes beeinträchtigt. Wenn nichts unternommen wird, entsteht ein Teufelskreis und die Angst nimmt weiter zu. Hier gilt es sehr genau hinzuschauen und sich allenfalls Hilfe zu holen. Tipps, wie Prüfungsangst bewältigt werden kann, folgen in einem einzelnen Blogbeitrag.

Junge sitzt am Pult, Kopf auf dem Pult, schaut traurig und hat seinen Pulli im Mund.
Starke Prüfungsangst kann die emotionale Gesundheit des Kindes auf die Dauer beeinträchtigen. Ernst nehmen, unterstützen und früh genug Hilfe holen.


Kinder achtsam durch ihre Ängste begleiten


Nun kannst du bestenfalls die Ängste von Kindern besser verstehen und einordnen. Doch wie kannst du sie durch die Angst begleiten?


Wichtiger Grundsatz: Hilf dem Kind, seine Angst selbst zu regulieren. Nimm ihm diese Aufgabe nicht ab.


Je besser wir unsere eigenen Gefühle wahrnehmen, einordnen und regulieren können, umso höher ist auch unsere Selbstwirksamkeit und unsere Resilienz. Wie im Beitrag "Emotionsregulation" erläutert wird, wurden wir Menschen zwar mit der Fähigkeit zu fühlen geboren, doch erhielten wir keine Anleitung, wie wir mit unseren Gefühlen umgehen sollen. Diese Fähigkeit dürfen wir lernen.


Dabei spielen wir als Erwachsene eine grosse Rolle. Einerseits als Vorbild, wie wir mit unseren eigenen Emotionen umgehen und andererseits, indem wir Kinder durch schwierige Emotionen begleiten. Im Folgenden findest du 8 Schritte, wie du Kinder durch ihre Angst begleiten kannst.


Ängste begleiten in 8 Schritten

  1. Ernst nehmen: Nimm das Kind und seine Angst ernst. Auch wenn sie für dich gar nicht nachvollziehbar ist und du tausend Gründe aufzählen könntest, warum es keine Angst zu haben braucht.

  2. Verständnis zeigen: Es ist okay, dass du so fühlst.

  3. Aktiv zuhören: Sprecht über die Angst. Stelle dem Kind Fragen, um besser zu verstehen, was seine Angst auslöst. Höre dabei aktiv zu.

  4. Gefühl benennen: Hilf dem Kind dabei, seine Gefühle einzuordnen und zu benennen. Du hast Angst.

  5. Angst im Körper wahrnehmen: Hilf dem Kind dabei, seine Gefühle im Körper bewusst wahrzunehmen. Wo spürst du die Angst?

  6. Angstmonster kennenlernen: Oftmals hilft es bei kleineren Kindern, vom Angstmonster zu sprechen und mit ihm ins Gespräch gehen. Was möchtest du mir denn sagen? (👉🏼 zum Tool 'Ich und meine Gefühlsmonster')

  7. Ermutigen & loben: Ermutige das Kind, sich mit der Angst auseinanderzusetzen, statt sie zu vermeiden. Lobe, wenn es mutige Schritte macht und Angstsituationen bewältigt.

  8. Bewältigungsstrategien vermitteln: Sucht gemeinsam Lösungen, wie das Kind die Angst mehr und mehr selbst regulieren kann. Hier kann es helfen, Legofiguren, Plüschtiere oder andere Hilfsmittel zu verwenden und die Situationen nachzuspielen.

Blaue Legofigur mit einem gelben Kopf sitzt auf weisser Unterlage.
Legofiguren oder andere Hilfsmittel können dazu dienen, Situationen nachzuspielen und Bewältigungsstrategien zu finden.

Durch diesen achtsamen Umgang mit Gefühlen wird die Selbstwirksamkeit und das Selbstbewusstsein gefördert. Das Kind fühlt sich seinen Gefühlen nicht mehr ausgeliefert.


👉 Weitere wertvolle Ideen und Tipps findest du im ersten Beitrag unserer Gefühlsreihe oder im letzten Beitrag zum Thema Wut.




Notfallkoffer für Angstsituation


Wie bei der Wut, kannst du mit deinem Kind auch für die Angst einen Notfallkoffer packen. Sammelt mindestens drei bis fünf Strategien, die das Kind selbständig anwenden kann, um die Angst zu regulieren. Hier sind ein paar Ideen:

  • Atemübungen: tief ein- und ausatmen, in den Bauch atmen, Bsp. 5 - Fingeratmung, Sternatmung

  • mit Angstmonster sprechen (👉🏼 zum Tool 'Ich und meine Gefühlsmonster')

  • Affirmationen zum Angstmonster: “Ich bin mutig, ich bin stark, ich kann alles schaffen.” Der jeweiligen Situation anpassen. (evtl. Affirmation auf Handrücken schreiben und Pflaster darüber)

  • Superheldenstellung / Bodybuilderpose

  • Körper fest anspannen (auf 5 zählen) und wieder entspannen (progressive Muskelentspannung)

  • von 10 langsam runterzählen

  • Zauberspray: Einen realen oder imaginären Spray füllen mit ganz Mut und magischen Zutaten, die die Angst wegsprayen. Bsp. Anti-Monster-Spray

  • Zeichnen: Angstauslösende Situation, Figur etc. zeichnen. Die Figur lustig gestalten, dass sie keine Angst mehr macht. (siehe Beispiel weiter unten)

  • Angstmachende Gedanken aufschreiben, evtl. Zettel dann zerknüllen oder zerreissen

Diese Strategien sollten regelmässig wiederholt und geübt werden, damit das Kind sie in der Notfallsituation auch allein anwenden kann.


Ich mache sehr gute Erfahrungen mit Wenn-dann Plänen. Was damit gemeint ist kannst du hier nachlesen.

Eine Frau umarmt einen Jungen und tröstet ihn.
Die 3 wichtigsten Tipps, wie du Kinder in ihrer Angst begleiten kannst: Die Angst ernst nehmen, Verständnis zeigen und aktiv zuhören..


Häufigster Fehler : Bagatellisieren


Wenn Kinder starke Emotionen zeigen, fühlen wir uns als Erwachsene häufig verpflichtet, sie sofort zu besänftigen und das "Problem" sofort aus der Welt zu schaffen. Dabei tappen wir in die ein oder andere Falle.


Nehmen wir das oben genannte Beispiel von der 6 - jährigen Lenja, die Angst vor dieser grusligen Figur im Buch hat und darum nicht schlafen kann. Wie kannst du darauf reagieren?


Der häufigste Fehler, den wir als Erwachsene in solchen Situationen machen, ist folgender:

"Das ist doch nicht so schlimm", "Das ist doch nur ein Bild" oder "Da musst du doch keine Angst haben".


Insbesondere dann, wenn ein Kind Angst hat oder traurig ist, versuchen wir das "Problem" kleinzureden. Wir rationalisieren und bagatellisieren. Wir meinen es gut, möchten das Kind trösten, bewirken aber damit das Gegenteil. Das Kind fühlt sich unverstanden. Es kann sogar das Gefühl entwickeln, dass sein Empfinden falsch ist und dass es gar nicht so fühlen sollte.


Kinder sind so klein, die Welt der Gefühle aber so unglaublich gross. Jedes Gefühl ist okay, ernst zu nehmen und zu begleiten. (unbekannt)

Im Folgenden stelle ich dir eine Alternative vor.


Beispiel Lenja: Angst vor grusliger Figur auflösen


Im Beispiel von Lenja (siehe oben) habe ich so reagiert:

Zuerst habe ich ihr aktiv zugehört und mein Verständnis gezeigt. Danach sollte sie die Figur, so wie sie in ihrem Kopf abgespeichert ist, auf ein Blatt Papier zu zeichnen. Wenn sie soweit fertig war, durfte sie die Figur mit lustigen Elementen ergänzen: ein Rock, ein Ringelschwänzchen, die Hörner wurden zu einer schicken Kopfbedeckung mit Perlen und zum Schluss gab's noch einen knallroten Lippenstift.


Die zuvor furchterregende Figur sah zum Schluss nur noch lustig und harmlos aus. Mit freudestrahlendem Gesicht präsentierte sie mir ihre Zeichnung. Die Figur war danach kein Thema mehr.


Diese Strategie ist sehr wirksam, um Ängste im Zusammenhang mit Monstern und fantastischen Figuren aufzulösen und macht auch noch Spass! 😄


Eine weitere spielerische Strategie: Wenn ein Kind abends vor dem Einschlafen Angst hat, dass Gespenster oder andere Fantasiefiguren im Zimmer sind, könnt ihr beispielsweise gemeinsam das Zimmer absuchen, im Schrank nachschauen, unter dem Bett etc. Ihr könnt daraus ein Spiel machen.


 

Tja, mein Versuch, diesen Beitrag etwas kürzer zu halten, ist etwas fehlgeschlagen. 🙈 Ich hoffe, dass du dafür einiges für dich mitnehmen kannst. 😉



Passende Materialien zum Thema

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